Vasalauf 2006

Start für 90 km auf Skiern

Horst, Dieter und Rocco beim Vasalauf 2006

Den Start bemerken wir nur, weil die Menge sich plötzlich in Bewegung setzt. Riesiger Startbereich; fast 16000 Starter. Reichen 50 Spuren nebeneinander? Leider gibt es trotz Chip keine individuelle Zeitmessung am Start. Doch was sind fünf Minuten bei einer Strecke von 90 Kilometern? Am Ende der „Startwiese“ (Wo ist hier das Grün?) nach ca. 800 m geht es rechts hoch, der berüchtigte Startberg. Links und rechts um eine kleine Insel teilt sich das riesige Feld zäh auf. Alles langsam im Grätschschritt durch diesen Flaschenhals. Mir wird richtig kalt, die Finger sind kaum noch zu spüren. Immer wieder Kollisionen mit anderen Skiern und Stöcken. Das Vorwärtskommen ist sehr mühsam und zehrt an den Nerven. Nur ruhig bleiben, Finger und Zehen bewegen. Oben wird es besser.
Nach ziemlich genau einer Stunde endlich das Schild: „Höchster Punkt des Vasaloppet und Km 87.“ Die gesamte Strecke ist Kilometer für Kilometer ausgeschildert, von 90 an rückwärts. An dieser Stelle wage ich meine Endzeit noch nicht auszurechnen. Der langsame und schleppende Beginn war schon bekannt. Bei Kilometer 85 kommt langsam Blut in meine Finger. Es schmerzt höllisch. Das Wetter klart langsam auf, die Sonne kommt raus. Richtig schöner blauer Himmel, nur noch unangenehmer kalter Wind von links. Durch die erste Zeitkontrolle drängele ich mich durch. Nur ein Sportdrink und ein Wasser. Dabei die positive Überraschung, die während des gesamten Laufes anhält: Alle Getränke sind vorgewärmt. Eine Wohltat bei diesen eisigen Temperaturen.
Unsere Skier haben wir im Camp professionell wachsen lassen. Wir kennen uns so schon kaum aus und für diese Streckenlänge fehlt uns erst recht die Erfahrung. Am Berg steht der Ski sehr gut, aber das Gleiten fällt sehr schwer. Doppelstockschub in der Ebene ist fast unmöglich, kostet zu viel Kraft. Immer wieder muss ich in den Diagonalschritt wechseln. Damit ist jedoch wenig Zeit gutzumachen. Laufend werde ich überholt. Sind überhaupt noch welche hinter mir? Bis Kilometer 60 versuche ich durchzuhalten, dann gebe ich auf. Ich bin einfach platt und falle die nächsten 15 Kilometer in ein tiefes Loch. Soll ich jetzt schon zur berüchtigten Blaubeersuppe greifen? Was soll’s. Wenn ich durchkommen will, muss ich mich fangen und endlich mein Tempo laufen. Diese Vorgabe hatte ich mir doch gestellt, nicht ablenken lassen, nur auf den eigenen Körper hören. Tja, was war letztlich die Ursache? Nach der Hälfte der Strecke geht es mir besser. Ich sage mal, es war die leckere Blaubeersuppe. Dann kommt der Evertsberg (km 43). Ich komme ganz gut hoch, aber die Verpflegungsstelle oben ist total verstopft. Das einzige Mal wo ich nichts nehme und mich entschließe weiterzufahren. Bei Kilometer 40 halte ich an und nehme meine eigenen Reserven, ein Energiegel und Magnesium aus der Wasserflasche. Jetzt bin ich mir sicher, dass ich es schaffen kann und korrigiere meine Zielzeit auf 10 Stunden.
Für mich ist erstaunlich, es gibt kaum Erholungsphasen. Nur kurze Abfahrten zur Entlastung von Armen und Rücken. Dafür immer wieder kurze, heftige Anstiege die von Mal zu Mal mehr wehtun. An der Verpflegung entdecke ich jetzt aufgelöste Haferflocken. Ganz am Ende des Buffets verlangt ein Schwede danach. Sofort greife ich zu. Es tut mir richtig gut, nicht immer nur Milchbrötchen. Die Helfer sind sehr aufmerksam und super freundlich. Auch zwischen den offiziellen Verpflegungen herrscht Volksfeststimmung. Viele schwedische Familien mit Motorschlitten haben an der Strecke Sitzplätze in den Schnee gegraben, machen Feuer und bieten auch den Läufern Tee an. Viele lokale Vereine haben Stände für die Betreuung der Läufer aufgebaut.
Ausländische Starter haben die entsprechende Nationalflagge auf ihrer Startnummer und sind so schon von weitem zu erkennen. „Heja, heja Deutschland“ höre ich immer wieder. Das macht Mut. Noch 20 km, jetzt gibt es auch Powergel und Kaffee. Damit sollte der Rest wohl zu schaffen sein. Die Zeit liegt noch im Soll, wird aber immer mehr zur Nebensache. Das Schild 10 km fotografiere ich noch. So viel Zeit muss sein. 5 km. Eine Gruppe verteilt frische Eierkuchen mit Marmelade. Ein Genuss. Das Hochgefühl beginnt. Bei Kilometer 2 lichtet sich der Wald und ich sehe die Kirche von Mora. Den Rest der Strecke wird man durch die Zuschauer getragen.
Es ist fast 18 Uhr, die Spitze ist seit 5 Stunden im Ziel. Trotzdem noch dichtes Spalier. Ich habe es geschafft. 9 Stunden, 47 Minuten und 2 Sekunden bedeuten für mich Platz 9642.
90 Kilometer auf Skiern. Den wichtigsten und längsten Skilanglaufwettbewerb der Welt durchgestanden. Im Ziel lasse ich mich von einer Betreuerin fotografieren. Die Erschöpfung ist mir anzusehen, aber im Moment vergessen. Solche Zieleinläufe sind unbeschreibliche und unvergessene Momente.
Sofort werde ich zum Skigarten geleitet. Der Datenchip wird abgenommen und ich kann meine Ski abgeben. Gleich nebenan fahren Busse im Minutentakt zu den Umkleidemöglichkeiten. Drei Verschiedene Schulen, die entsprechenden Turnhallen, sanitären Einrichtungen und Speiseräume in Mora sind dafür vorgesehen. Auf dem Schulhof liegt das Gepäck in Reih und Glied. Ich versuche mich zu orientieren, sehe meinen Startnummernbereich. Schon kommt ein Helfer mit meiner Tasche und Beutel auf mich zu. Eine freundliche Gratulation und schon wird das nächste Gepäckstück gesucht. Die Turnhalle ist total überfüllt. Überall Sachen verstreut, Läufer beim Umziehen, Ausruhen und vor allem Telefonieren. Ich finde einen Platz, ziehe meine durchgeschwitzten Sachen aus und gehe duschen. Wird das Wasser nach so vielen Leuten noch warm sein? Völlig unbegründete Bedenken. Saubere, moderne Duschanlage und schön heißes Wasser. Jetzt schnell in die frischen Sachen. Mir laufen die Schauer über den Rücken, so kalt sind die Sachen. Mein Nachbar lacht: Kalt was, sagt er in gutem Deutsch und prostet mir mit einer Flasche Bier zu. Das ist Tradition in Schweden, meint er. Die Flasche Wasser in meiner Tasche ist leider eingefroren.
An der Verpflegungsstelle im Speiseraum der Schule steht eine lange Schlange. Ich habe auch noch keinen richtigen Hunger, sondern will schnell nach hause. So fahre ich mit dem Bus wieder zum Zielbereich. Beim Einsteigen treffe ich Dieter, der gerade zu Umziehen ankommt. Nach 10:29:40 Stunden ist er auf Platz 10720 auch wohlbehalten im Ziel angekommen.
Ich hole meine Ski und laufe zu unserem Reisebus, der uns zurück nach Rättvik bringt. Der Reiseveranstalter hat ebenfalls Pendelverkehr eingerichtet, so dass keiner sehr lange warten muss. Im Bus erster Austausch mit anderen Leidensgenossen und ein erstes Bier. Hier erfahre ich auch, dass Horst unser Oldie durch die Karenzzeit am Kontrollpunkt Evertsberg (km 43) gefallen ist. Er hat das Rennen dort beenden müssen und ist bereits im Hüttendorf. Einerseits bin ich froh, dass er gesund ist und nicht auf Biegen und Brechen durchgelaufen ist. Andererseits kann ich mir seine Enttäuschung gut vorstellen.
Einige im Bus sind zum wiederholten Mal hier und sprachen von sehr schlechten Schneebedingungen. Die Laufzeiten waren mindestens 45 Minuten langsamer als in den Vorjahren. Auch die Siegerzeit von 04:34:09 ist eine halbe Stunde schlechter. Das rückt auch unsere Zeiten in etwas besseres Licht, aber egal. Abends in der Hütte gibt es dann Sekt. Auch Horst kann beruhigt mit anstoßen, diese Leistung mit 68 Jahren ist unbedingt zu würdigen.
Dann müssen wir Sachen packen, am nächsten Morgen ist Abreise. 23:30 Uhr ist endlich Nachtruhe. Ich kann endlich auch wieder gut schlafen.